Rede · Jette Waldinger-Thiering · 20.11.2024 In der Bildung Prioritäten setzen!

„Wir brauchen mehr ausgebildete Lehrkräfte, wir brauchen mehr Angebote für Kinder aus bildungsfernen Milieus, wir brauchen eine bessere Unterrichtsversorgung. Was wir nicht brauchen, sind noch mehr Anforderungen an die Lehrer.“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 26 - Finanzielle Bildung für bessere Chancen (Drs. 20/2669)

Die OECD hat Vorschläge zu einer Finanzbildungsstrategie für Deutschland vorgelegt. Diese beziehen sich aber nicht in erster Linie auf Schülerinnen und Schüler, sondern auf weiter Teile der Bevölkerung. Die Jungen, die Älteren, die Frauen, die Selbständigen, die Angestellten, die Finanz- und Bildungsschwachen. Also eigentlich fast alle. Und die OECD stellt auch fest, dass es um die finanzielle Bildung der Menschen in Deutschland im Durchschnitt der OECD-Länder gar nicht so schlecht bestellt ist. Was macht nun die FDP daraus? Einen Antrag zur Stärkung der finanziellen Bildung in den Schulen. Das ist nicht falsch, aber auch nicht das Hauptaugenmerk der OECD-Vorschläge. Auch die Verbraucherzentralen fordern seit Jahren mehr Verbraucherbildung, darunter auch Finanzbildung, in Schulen. Und doch haben wir in unseren Schulen aktuell deutlich akutere Sorgen als die finanzielle Bildung. Die OECD hat uns nämlich auch kürzlich wieder bescheinigt, dass wir eines der europäischen Schlusslichter bei der Bildungsgerechtigkeit sind. Und dass in kaum einem anderen OECD-Land so viele junge Menschen die Schulen ohne Abschluss verlassen. 
Und das, obwohl wir pro Kopf viel Geld in unser Bildungssystem investieren. Nur bekommen wir das viele Geld nicht in gute Bildung für alle umgesetzt. Hier haben wir einen dringenden Handlungsbedarf: wir brauchen mehr ausgebildete Lehrkräfte, wir brauchen mehr Angebote für Kinder aus bildungsfernen Milieus, wir brauchen eine bessere Unterrichtsversorgung. Was wir nicht brauchen, sind noch mehr Anforderungen an die Lehrer. 
Neue Unterrichtsinhalte können nur dann hinzukommen, wenn etwas anders wegfällt. Was nicht geht, ist, dass wir das Thema einfach noch obendrauf legen. Sollen die Lehrer dann künftig schneller sprechen? Beim WiPo-Unterricht verwalten viele Schulen schon heute nur den Mangel. 
Dabei sind die tagesaktuelle politische Bildung und die Demokratiebildung aktuell so bitter nötig wie selten zuvor. Wir dürfen hier nicht die Demokratiebildung zugunsten der Finanzbildung kürzen. Was ich vor allem sehe, ist eine große gesamtgesellschaftliche Aufgabe: am 07. März 2025 ist wieder EqualPay-Day. Bis zu dem Tag haben Frauen in Deutschland statistisch unbezahlt gearbeitet. Weil typische Frauenberufe immer noch schlechter bezahlt werden, weil Frauen immer noch seltener Hochschulabschlüsse erwerben und dann seltener in Jobs finden, die ihrer Qualifikation entsprechen. Frauen haben also nicht nur weniger finanzielle Bildung als Männer, sondern schlicht weniger Geld, das sie anlegen könnten.

Zudem leben ca. 16 Prozent der Menschen in Deutschland in Armut. Die sind schon froh, wenn sie genug Geld haben, um bis zum Monatsende Essen einzukaufen. Um über Altersvorsorge und Geldanlagen nachzudenken, hat diese Gruppe schlicht keine Ressourcen. Und das sind die grundlegenden Probleme, auf die auch die OECD immer wieder hinweist: Deutschland ist ein sozial zunehmend ungerechtes Land. Die Armen werden ärmer und die Reichen reicher. Und wer arm ist, bleibt eben meist auch arm an Bildung. Weil Deutschland auch ein bildungsungerechtes Land ist. Das ist eine der großen Fragen, auf die wir endlich Antworten geben müssen: wie finden Menschen den Weg aus der Armut, wie sichern wir gleiche Chancen für alle in den Schulen? 
Wir können es uns schon lange nicht mehr leisten, dass vor allem junge Menschen aus bildungsfernen Familien oder mit Migrationshintergrund die Schulen ohne Abschlüsse verlassen, dass junge Frauen hinter ihren Ausbildungsmöglichkeiten zurückbleiben und dass in unseren Schulen zunehmend fachfremde Menschen unterrichten, damit überhaupt noch Unterricht stattfinden kann. Wir haben so viele Baustellen in unserem Bildungssystem, dass wir nicht umhinkommen, Prioritäten zu setzen. Und die finanzielle Bildung ist zwar wichtig, stünde auf meiner Prioritätenliste aber nicht ganz oben!

 

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