Rede · Jette Waldinger-Thiering · 26.03.2021 Es herrscht Perspektivlosigkeit in der Kulturbranche

„Es droht daher ein schlimmer Exodus der Kulturszene. Niemand geht nach einem Jahr Corona davon aus, dass nach der Pandemie alles so weitergeht wie vorher. Wie viele Musiklehrkräfte, Malerinnen und Puppenspieler später wieder auftreten werden, steht in den Sternen.“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 33 - Bericht zur Neuauflage der Kulturhilfe und zu weiteren coronabedingten Hilfsprogrammen für Kulturschaffende in Schleswig-Holstein (Drs. 19/2787)

Der vorliegende Antrag betont die Verantwortung des Landtags für die Kulturschaffenden. Teil der Verantwortung ist allerdings auch das Aufzeigen von Perspektiven; die gibt es aber nicht. Obwohl viele Künstlerinnen und Künstler im Sommer gute Hygienekonzepte für Ausstellungen oder Konzerte entwickelt haben, geben wir ihnen nicht die Chance, selbst Geld zu verdienen.  Im Lockdown besteht faktisch ein Auftrittsverbot. Vereinzelte Online-Auftritte reichen aber nicht aus, um die Rechnungen zu bezahlen. 
Das wird massive Auswirkungen haben. 
Jeder und jede Abgeordnete sollte sich nach den Erfahrungen mit den nicht unzulänglichen Corona-Hilfen für die freie Kunstszene fragen, ob er oder sie dem eigenen Kind dazu raten würden, freie Künstlerin oder Künstler zu werden. Ich denke, dass die überwiegende Antwort sein wird: Nein. Man kann niemanden guten Gewissens raten, sich als Künstler oder Künstlerin selbstständig zu machen. 
Dann fällt man nämlich durch alle Raster: im Gegensatz zu angestellten Künstlerinnen und Künstlern haben Freiberufler keinen Anspruch auf Kurzarbeitergeld. Sie haben in der Corona-Zeit keine Engagements, keine Auftritte und können keine Rechnungen schreiben. Weder als Hochzeitsfotograf, als Clown oder als Petuh-Tante. Seit Monaten kommt kein Geld herein. 
Die Unterstützungshilfen haben viel zu lange auf sich warten lassen. Vermieter und Stadtwerke warten aber nicht. 
Darum haben sich viele Künstlerinnen und Künstler um Alternativen gekümmert.
Der Bund hat bei seinen Hilfsprogrammen Künstlerinnen und Künstler weitgehend vergessen. Dabei wäre bei einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 17.000 Euro die Unterstützung der Künstlerinnen und Künstler ein überschaubarer Beitrag. Zumindest die Aufrechterhaltung der Sozialversicherungsleistungen wäre für die Künstler eine echte Unterstützung gewesen. Das ist nicht passiert, denn der Bund musste keine Folgen fürchten, keine Massenproteste oder Besuche der Lobbyisten. Die meisten Künstlerinnen und Künstler sind leidgeprüfte Einzelkämpfer. Schon im März haben sie Solidaritätsaktionen organisiert, um ohne staatliche Hilfe überhaupt über die Runden kommen zu können. 
Stattdessen springt jetzt das Land ein. Löblich, aber nicht auskömmlich.  Das Projektstipendium ist eine gute Maßnahme, ist aber verbunden mit erheblichem Antragsaufwand. Darüber hinaus sind 2.000 Euro völlig unzureichend. Das ist nicht existenzsichernd.
Der Verweis auf Hartz IV ist richtig, aber lebensfremd. Freiberufliche Künstlerinnen und Künstlern wird unter Hartz IV zugemutet, ihre Reserven zu verbrauchen, bevor sie Geld bekommen. Dann können sie ja gleich ihre Reserven verleben und ihren Job wechseln. Und genau das tun sie auch. Es droht daher ein schlimmer Exodus der Kulturszene. Niemand geht nach einem Jahr Corona davon aus, dass nach der Pandemie alles so weitergeht wie vorher. Wie viele Musiklehrer, Maler und Puppenspieler später wieder auftreten werden, steht in den Sternen. Die Sportvereine verzeichnen einen massiven Mitgliederschwund; ebenso die Chöre, die seit Monaten weder üben noch auftreten können. Das gibt eine vage Vorstellung davon, wie sich die Gesellschaft durch Corona gewandelt hat. 
Der Bund hat auf kompletter Linie versagt. Uns droht daher nach der Pandemie ein bitteres Erwachen.

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