Rede · Lars Harms · 23.05.2024 Die Minderheiten gehören ins Grundgesetz

„Das Grundgesetz ist für uns als SSW, als Vertretung zweier nationaler Minderheiten, unvollständig. Minderheiten brauchen einen besonderen Schutz und für uns ist es nach wie vor unverständlich, warum dieser nicht auch im Grundgesetz aufgenommen sein sollte.“

Lars Harms am Meer

Lars Harms zu TOP 21+39+46+47 - Keine Toleranz bei Drohungen, Schmähungen und Verunglimpfungen, Stärkung von Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zum 75-jährigen Bestehen des Grundgesetzes und die Regenbogenflagge als Symbol unserer freien, vielfältigen und toleranten Gesellschaft (Drs. 20/1990 (neu), 20/2142, 20/2152)

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik Deutschland verkündet. Rund um das Bundeskanzleramt, den Bundestag und an vielen Orten in Schleswig-Holstein gibt es in den nächsten Tagen eine Vielzahl an Veranstaltungen und Feierlichkeiten. Dabei wird nicht nur das Grundgesetz an sich gefeiert, sondern auch die parlamentarische Demokratie, wie wir sie leben. 
„Das Grundgesetz hat Geburtstag, wir wollen mit ihm feiern!“, habe ich an vielen Stellen lesen können. Eine Vermenschlichung eines rechtlichen Textes, als wäre er etwas Lebendes, als könnte es tatsächlich altern. Und in seinem Alterungsprozess hat es ja auch schon einige Veränderungen durchgemacht. Ungefähr jeder zweite Artikel des Grundgesetzes ist bereits verändert worden, einige davon auch mehrmals.

Genau ein Zustand allerdings kann nicht verändert werden, die sogenannte Ewigkeitsklausel, der Artikel 79 Absatz 3. "Eine Änderung dieses Grundgesetzes, durch welche die Gliederung des Bundes in Länder, die grundsätzliche Mitwirkung der Länder bei der Gesetzgebung oder die in den Artikeln 1 und 20 niedergelegten Grundsätze berührt werden, ist unzulässig." Es geht hier um die Demokratie, das Rechtsstaatsprinzip, die Menschenwürde und auch das, was 1933 zur Gleichschaltung in Form eines Zentralstaates führte. 
Und so ist das Grundgesetz natürlich immer auch als Produkt seiner Zeit zu sehen. Deswegen ist es für mich besonders wichtig, noch einmal eines festzustellen: Dieses Grundgesetz ermöglicht es uns, in einem der freiesten Länder auf diesem Planeten zu leben. Und das, nachdem von diesem Land aus die schlimmsten Verbrechen an der Menschheit begangen wurden, die es jemals gegeben hat. Wir leben hier in Meinungs- und in Redefreiheit. Und wir leben hier seit 75 Jahren in Frieden.

Solche Jubiläen sorgen ja auch gerne dafür, dass Artikel geschrieben werden, Diskussionsformate stattfinden und wir gesellschaftlich die Gelegenheit nutzen, um uns mit dem Thema noch einmal neu zu beschäftigen. Ein Format, über das ich gestolpert bin, hat mir besonders gut gefallen. Es stellte die Frage: Welcher ist für Sie persönlich der wichtigste Artikel aus dem Grundgesetz? 
Ich kann das für mich und für den SSW auch beantworten: Es wäre einer, der noch fehlt. Wir als SSW setzen uns seit Jahrzenten dafür ein, dass wir endlich einen Minderheitenartikel ins Grundgesetz bekommen. 
Am 21. Mai 1949, als in Schleswig-Holstein über das Grundgesetz abgestimmt wurde, stimmten die sechs SSW-Mitglieder dagegen. Samuel Münchow, unser damaliger Fraktionsvorsitzender, erklärte dies – und ich hätte Ihnen am liebsten seine gesamte Rede zitiert – wie folgt: es würde „der Eindruck absolut erweckt, daß der künftigen deutschen Republik die national Andersdenkenden noch nicht angehören, daß in diesen Fragen entschieden werden soll in den verschiedenen Ländern, denen es überlassen bleibt, nach eigenem Gutdünken, Gesetze und Verordnungen zu erlassen.“ Er beendet seine Erklärung mit der Schlussfolgerung: „Aus diesem Grunde können wir dem Grundgesetz unsere Zustimmung nicht geben.“ 
Seitdem ist das Grundgesetz für uns als SSW, als Vertretung zweier nationaler Minderheiten, unvollständig. Minderheiten brauchen einen besonderen Schutz und für uns ist es nach wie vor unverständlich, warum dieser nicht auch im Grundgesetz aufgenommen sein sollte.

Wir waren da übrigens auch schon einmal weiter. Etwa mit der Paulskirchenverfassung von 1849, deren Artikel 188 festhält: „Den nicht deutsch redenden Volksstämmen Deutschlands ist ihre volksthümliche Entwickelung gewährleistet, namentlich die Gleichberechtigung ihrer Sprachen, soweit deren Gebiete reichen, in dem Kirchenwesen, dem Unterrichte, der inneren Verwaltung und der Rechtspflege.“
Oder mit der Weimarer Reichsverfassung von 1919, deren Artikel 113 zusichert: „Die fremdsprachigen Volksteile des Reichs dürfen durch die Gesetzgebung und Verwaltung nicht in ihrer freien, volkstümlichen Entwicklung, besonders nicht im Gebrauch ihrer Muttersprache beim Unterricht, sowie bei der inneren Verwaltung und der Rechtspflege beeinträchtigt werden.“

Ich wundere mich daher immer wieder darüber, dass etwas Vergleichbares in 2024 ein unlösbares Problem darstellen soll. Und ich möchte die Gelegenheit nutzen, um noch einmal darauf hinzuweisen, dass es in dieser Wahlperiode, genau wie in der Wahlperiode davor, aus diesem Parlament einstimmige Beschlüsse gibt, die die Landesregierung auffordern, eine Bundesratsinitiative einzureichen, um das Grundgesetz dahingehend zu ergänzen, dass eine Bestimmung zugunsten der in Deutschland anerkannten nationalen Minderheiten deutscher Staatsangehörigkeit eingeführt wird. 
Wir sind uns der Herausforderungen bewusst, aber ich möchte erneut an die Landesregierung appellieren, dieses Vorhaben nach den anstehenden Bundesländerwahlen in dieser Legislatur erneut anzugehen.

In unserer Landesverfassung hingegen ist, wie Sie wissen, der Minderheitenschutz verankert.
Schon die 1949 verabschiedete Schleswig-Holsteinische Landessatzung enthielt das Prinzip der Bekenntnisfreiheit. 1990 wurde der damalige Artikel 5 mit Verpflichtung zu Schutz und Förderung der dänischen Minderheit und der friesischen Volksgruppe in die Landesverfassung aufgenommen und 2012 hat Schleswig-Holstein als erstes Bundesland die deutschen Sinti und Roma als Minderheit in die Landesverfassung aufgenommen. Wir haben außerdem 2014 mit weiteren Einzelbestimmungen gezeigt, dass man Verfassungen mit ganz konkreten Bestimmungen zugunsten der Minderheiten und der Sprachenvielfalt weiterentwickeln kann.

Einen klaren Vorteil hat das Grundgesetz gegenüber unserer Landesverfassung dennoch:  Bürgerinnen und Bürger können ihre Grundrechte einklagen. Es wäre schön, wenn man das auch auf Landesebene könnte. Dafür müsste man Verfassungsbeschwerden in Schleswig-Holstein ermöglichen. Meine Damen und Herren, der SSW hat Ihnen genau dafür im Juni 2022 einen Antrag vorgelegt, wir freuen uns beizeiten über Ihre Zustimmung.

Sie sehen: Über unsere Verfassung lässt sich diskutieren und streiten und das ist auch vollkommen richtig so. In einer pluralistischen, einer freiheitlichen Demokratie sind auch Verfassungen Teil von gesellschaftlichen Aushandlungsprozessen. Man darf sich da nicht in falscher Sicherheit wiegen. Meine Vorredner sind bereits auf die Bedrohungen eingegangen, die wir seit einer Weile mit Sorge beobachten. Deswegen ist es auch richtig, dass wir auch für die Landesebene prüfen werden, ob die Verfassung des Landes Schleswig-Holstein, seine Geschäftsordnung oder die Gerichtsverfassung des Landesverfassungsgerichts besser abgesichert werden müssen, um sie vor extremistischen parlamentarischen Kräften zu schützen.

Gerhart Baum hat vor ein paar Wochen in einem Interview in der Süddeutschen Zeitung etwas gesagt, was mir sehr im Kopf geblieben ist: „Entscheidend ist: Die Verfassung wird verteidigt durch uns, die Bürger, und sonst niemanden!“ Ein Bekenntnis zur freiheitlichen, parlamentarischen Demokratie kann man niemandem abringen. Aber man kann alles daran setzen, für sie zu werben. Ich finde das, bei allen politischen Überlegungen, die wir uns machen, besonders wichtig und einleuchtend. Es sind die Bürgerinnen und Bürger, die unsere Verfassung, unser Grundgesetz, mit Leben füllen und seinen Fortbestand sichern. Und es sind unsere Bürgerinnen und Bürger, die unsere Demokratie ausleben. 
Deswegen nehmen wir als SSW, aber in diesem Punkt kann ich, denke ich, für das gesamte Parlament und seine Regierung sprechen, Drohungen und Einschüchterungen im Wahlkampf besonders ernst. Als absolut widerlich habe ich den Angriff auf den Sächsischen Spitzenkandidaten der SPD, Matthias Ecke, empfunden, der von einer Gruppe Neonazis krankenhausreif geprügelt wurde. Am selben Abend hatten sie bereits eine Wahlkampfsgruppe der Grünen angegriffen. 
Dazu sage ich vor allem eines: genau darum machen wir weiter! Wir wenden uns gegen Angriffe auf unsere Bürgerinnen und Bürger! Wir wenden uns gegen Angriffe auf die Demokratie! Wir bleiben wehrhaft!

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