Rede · Lars Harms · 28.09.2022 Das Leben ist für viele Menschen schlichtweg nicht mehr bezahlbar
„Menschen mit mittleren Einkommen sind schon seit Jahren eine vergessene Gruppe. Deshalb muss die kalte Progression weg!“"Allerdings liegt natürlich auch hier der Teufel im Detail; und zwar bei den hohen Einkommen. Denn hohe und höhere Einkommen profitieren überproportional."
Lars Harms zu TOP 37 - Automatische Inflationsanpassung auch bei Lohn- und Einkommenssteuer (Drs. 20/253)
Die Menschen in Schleswig-Holstein stöhnen unter Reallohnverlusten und wissen nicht, wie sie die anstehenden Preiserhöhungen überhaupt bezahlen sollen. Die ersten Vorboten dieser Ungewissheit sind mit Händen greifbar: die Ticketverkäufe bei den Konzerten brechen ein, die Abo-Zahlen bei Theatern sinken und mancher Verein verzeichnet eine regelrechte Austrittswelle. Die Menschen sparen oder versuchen zumindest ihre Ausgaben zu senken, damit sie bei Wärme und Strom und an der Tankstelle weiterhin bezahlen können. Das Leben ist für viele Menschen schlichtweg nicht mehr bezahlbar. So sehr sie sich anstrengen, am Ende des Geldes ist noch eine Menge Monat übrig.
Menschen mit mittleren Einkommen sind schon seit Jahren eine vergessene Gruppe: ob bei Wohngeld oder bei Kita-Beiträgen: Sozialleistungsempfängerinnen und -empfänger können sich auf staatliche Unterstützung verlassen, so knapp sie auch sein mag. Das können die mittleren Einkommen nicht.
Richtig pervers wird es, wenn nach einer Lohnerhöhung weniger Geld da ist. Es kann leider tatsächlich passieren, dass Lohnerhöhungen von der Progression aufgefressen werden. Deswegen gibt es die Forderung nach Abschaffung der kalten Progression auch schon seit vielen Jahren; das ist keine Erfindung einer einzelnen Partei, sondern ein Missstand, den wir alle kennen. Das Reden gegen die kalte Progression hat den Betroffenen allerdings keine Besserung verschafft.
Die FDP legt einen neuen Vorschlag vor: Sie sieht mit ihrem Antrag eine Abschaffung der kalten Progression und eine entsprechende regelmäßige Inflationsanpassung vor, die die mittleren Einkommen entlasten soll. Solche Systeme kennen wir aus einigen europäischen Nachbarländern; das System ist also durchaus bewährt. Die vorgelegte Lösung der FDP-Fraktion mit einer Anpassung an die Inflation ist nach Jahren der Diskussion endlich einmal ein gangbarer Weg, mit dem man der kalten Progression dauerhaft wirksam entgegentreten kann.
Allerdings liegt natürlich auch hier der Teufel im Detail; und zwar bei den hohen Einkommen. Denn hohe und höhere Einkommen profitieren überproportional. Das kann nicht sein. Wir schlagen darum vor, den Steuersatz bei Spitzenverdienerinnen und Spitzenverdienern anzupassen. Nur mit dieser Maßnahme kann ein Ende der kalten Progression sozial gerecht sein. Schließlich geht es ja genau darum: die kalte Progression ist für mittlere Einkommen unsozial. Sie abzuschaffen und neue Ungerechtigkeiten zu schaffen, kommt aber nicht infrage. Deswegen müssen wir die gesamte Einkommensskala im Blick behalten.
Ein angepasster Spitzensteuersatz, für mich wenig überraschend, steht allerdings nicht im derzeitigen Antrag der FDP-Fraktion drin. Ich gehe davon aus, dass überproportionalen Steuerersparnissen in diesem Bereich ein Riegel vorgeschoben werden muss – das sollten wir im Rahmen der Beratungen aber durchaus hinbekommen. Dann können wir auch über Finanzierungsperspektiven sprechen. Denn ich bin davon überzeugt, dass alle bisherigen Vorstöße zur Bekämpfung der kalten Progression an mangelnden Finanzierungsperspektiven scheiterten. Mit einem Finanzierungsvorschlag, und das wäre der angepasste Steuersatz für Spitzenverdiener, bekommt das neue, und durchaus clevere Modell eine reelle Chance.