Speech · Jette Waldinger-Thiering · 23.09.2021 Gendersprache: Sie eskalieren an der Wirklichkeit vorbei
„Geschlechtersensibler Sprachgebrauch dringt von unten hervor und bahnt sich seinen Weg durch die Instanzen. Ein Erlass allerdings, der dieser Sprachentwicklung nun so hart einen Riegel vorschiebt, will nicht mehr Teil eines Diskurses sein, sondern diesen beenden.“
Jette Waldinger-Thiering zu TOP 18+33 - Anträge zum Thema Gendersprache (Drs. 19/3264 & 19/3293)
Die Überschrift dieses Tagesordnungspunktes rahmt diese Debatte bereits auf eine Art und Weise, die suggeriert, es gäbe eine sogenannte „Gendersprache“ im Gegensatz zur bisherigen vermeintlich neutralen Sprache.
Meine Herren Antragssteller, die deutsche Sprache gendert immer. Auch das generische Maskulinum ist gegendert. Lehrer, Lehrerinnen oder Lehrer*innen. Wie auch immer Sie es machen, Sie gendern.
Aus psycholinguistischen Studien wissen wir schon lange, dass gedanklich ausgeblendet wird, wer nicht zur Sprache kommt. Wer angeblich sprachlich mitgemeint wird, wird eben nicht mitgedacht.
Inklusion und Diversität manifestieren sich auch sprachlich. Gesellschaftlich weniger Menschen auszuschließen, spiegelt sich auch im sprachlichen Umgang wider.
Kopflose Forderungen nach Volksentscheiden kommen mir dabei vor, wie das hektische Aufbäumen derer, die nicht ertragen, dass ihre Umwelt sich ausdifferenziert.
Meine Damen und Herren, Sie eskalieren an der Wirklichkeit vorbei!
Sprache verändert sich immer wieder. Und Sprache bildet Gesellschaft ab und schafft Bewusstsein.
Nicht nur im Deutschen, auch in anderen Sprachen. Im Englischen hat sich „they/them“ als Personalpronomen für nicht-binäre Menschen durchgesetzt. Im Schwedischen gibt es seit ein paar Jahren neben „han“ für „er“ und „hon“ für „sie“ auch „hen“. „Hen“ kann genderneutral eingesetzt werden kann, wenn das Geschlecht irrelevant oder unbekannt ist oder neutral gehalten werden soll. Oder eben für nicht-binäre Menschen, die weder „er“ noch „sie“ als Pronomen nutzen.
Wir beobachten, dass geschlechtersensibler Sprachgebrauch nichts ist, was von oben aufoktroyiert wird. Stattdessen dringt er von unten hervor und bahnt sich seinen Weg durch die Instanzen. Ein Erlass allerdings, der dieser Sprachentwicklung nun so hart einen Riegel vorschiebt, will nicht mehr Teil eines Diskurses sein, sondern diesen beenden.
Karin Prien hat mit diesem Erlass Schulen die Entscheidungsspielräume in der Diskussion um gendergerechte Sprache genommen. Was hier geschehen ist, ist gestaltende Sprachpolitik von oben.
Aushandlungsprozesse finden aber weiter statt und sie tun das auch auf dem Pausenhof oder in der Freizeit. Warum er nun ausgerechnet im Unterricht nicht weiter stattfinden soll, ist mir unbegreiflich. Viele unserer Schüler*innen gendern doch bereits jetzt. Wieso sollen sie im Unterricht nicht auch Fragen stellen und die verschiedenen Vorgehensweisen vorgestellt bekommen?
Die deutsche Sprache bietet hierfür so viele Varianten, die alle ein Für und ein Wider haben. Doppelnennungen wie „Lehrer und Lehrerinnen“ etwa, die vielleicht sehr einfach wirken, aber eben im binären System verhaftet bleiben.
Das Gendersternchen wie bei „Lehrer*innen“, das nicht nur schriftlich besonders auffällt, sondern auch mündlich durch eine minimale Pause im Wort einen Hinweis auf eine Welt gibt, die mehr als zwei Geschlechter umfasst.
Oder auch der Doppelpunkt, der wie das Gendersternchen verwendet wird, aber von Leseprogrammen besser erkannt wird und so bei der Barrierefreiheit punktet.
Das Binnen-I kommt ein bisschen wie ein lahmer Kompromiss daher und der Unterstrich als Gendergap oder auch der Schrägstrich haben bisher irgendwie kaum jemanden richtig überzeugen können.
Die eine Lösung gibt es also nicht, die Debatte ist noch nicht abgeschlossen.
Wirklich hilfreich für die Lehrkräfte wäre daher ein Erlass gewesen, der ihnen rechtssicher mehrere Möglichkeiten zur Verfügung stellt.
Unser Vorschlag wäre gewesen, es bleibt dabei, dass alle Kinder in der Grundschule die gängige Grammatik und Rechtschreibung lernen.
Ab einer gewissen Klassenstufe in den allgemeinbildenden Schulen gäbe es dann Unterrichtseinheiten zu geschlechtergerechter Sprache, die einen Überblick über die verschiedenen Möglichkeiten gibt. Danach wäre es Schüler*innen freigestellt, wie sie gendern wollen. Auf diese Art und Weise hätte, im Gegensatz zur Regelung des Ministeriums, tatsächlich niemand einen Nachteil von welcher Entscheidung auch immer.