Speech · Christian Dirschauer · 26.08.2021 Mehr Flexibilität, weniger Bürokratie und bessere Möglichkeiten für pflegende Angehörige
„Wir müssen Pflegebedürftige und ihre Familien wirkungsvoll unterstützen“
Christian Dirschauer zu TOP 19 - Entlastungsbetrag für Pflegebedürftige direkt auszahlen (Drs. 19/3180)
Mehr als 80 Prozent aller Pflegebedürftigen leben Zuhause. Die meisten von ihnen werden ausschließlich von ihren Angehörigen gepflegt. Wer hier direkt oder auch nur über Freunde oder Bekannte einen Einblick hat, weiß genau, dass der Alltag dieser Familien nicht immer einfach ist. Aus eigener Erfahrung kann ich sagen, dass das sogar noch stark untertrieben ist. Denn viele dieser Menschen gehen an ihre Belastungsgrenze. Und nicht wenige auch darüber hinaus. Spätestens unter den erschwerten Bedingungen der Coronapandemie können wir damit festhalten, dass Pflege in vielen Fällen krank macht. Aus Sicht des SSW ist deshalb eins völlig klar: Es reicht nicht, wenn wir uns nur in Sonntagsreden bei diesen gut 5 Millionen Menschen bedanken. Wir müssen diese riesige und trotzdem sehr leise Gruppe viel stärker unterstützen.
Zugegeben: Unsere Forderung, den Entlastungbetrag für Pflegebedürftige direkt auszuzahlen, ist da ein vergleichsweise kleiner Beitrag. Aber wir halten ihn trotzdem für wichtig und vor allem für wirkungsvoll. Wie wir wissen, haben Pflegebedürftige in häuslicher Pflege ab dem Pflegegrad 1 Anspruch auf einen Entlastungsbetrag in Höhe von bis zu 125 Euro monatlich. Laut Definition ist der Betrag „zweckgebunden für qualitätsgesicherte Leistungen zur Entlastung pflegender Angehöriger und vergleichbar Nahestehender in ihrer Eigenschaft als Pflegende“ einzusetzen. Aber eben auch zur Förderung der Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit der Pflegebedürftigen bei der Gestaltung ihres Alltags. Das können Leistungen der Nacht- oder Kurzzeitpflege sein. Oder auch eher banale Hilfen, wie etwa die Erledigung von Einkäufen.
Vom Grundsatz her ist das also eine prima Sache. Doch leider gibt es einige Hürden, die viele Menschen, die hiervon profitieren könnten, abschrecken. Denn beim Entlastungsbetrag handelt es sich um einen Anspruch auf Kostenerstattung. Der Betrag ist zweckgebunden und wird dem pflegebedürftigen Versicherten nur dann gewährt, wenn er tatsächlich Leistungen in Anspruch genommen hat. Er wird also nicht bar ausgezahlt. Pflegebedürftige müssen zunächst in Vorleistung gehen. Damit die Kosten durch die Pflegeversicherung erstattet werden, verlangt sie Rechnungen und Quittungen der in Anspruch genommen Leistungen, oder aber ein Dienstleister rechnet die Zahlung direkt mit der Pflegeversicherung ab. Hiermit ist oft ein erheblicher Verwaltungsaufwand verbunden. Und diese Regelung schließt vor allem auch den gesamten Bereich der privat organisierten Hilfe aus.
Die Tatsache, dass Pflegebedürftige das Geld nur über eine anerkannte Organisation verwenden können, geht aus Sicht des SSW klar an der Lebenswirklichkeit vorbei. Denn oft sind es nun mal Netzwerke im Quartier beziehungsweise ist es die Nachbarin oder der Schwager, die im Haushalt helfen oder die Fenster putzen. Natürlich gibt es hier keine exakten Zahlen. Aber uns allen ist doch klar, dass ein großer Teil dieser Alltagshilfen für Betroffene privat organisiert und überhaupt nicht vergütet wird. Aber genau diese Hilfen im Quartier und unter Familienangehörigen würden wir durch die direkte Auszahlung des Entlastungsbetrags stärken. Noch dazu profitieren Betroffene in doppelter Hinsicht: Zum einen bekommen sie deutlich mehr für dieses Geld, da die Stundensätze professioneller Dienstleister häufig ganz andere sind. Und zum anderen haben sie auch ein größeres Maß an Selbstbestimmung.
Hinzu kommt, dass die anerkannten Dienstleister oft gar nicht genügend Personal für die Erbringung dieser haushaltsnahen Dienstleistungen haben. Damit bleibt der Entlastungbetrag in vielen Fällen ungenutzt. Trotz nachweislichem Bedarf und Genehmigung durch die Pflegeversicherung. Und zwar mitunter jahrelang, weil es zum Beispiel überhaupt keinen anerkannten Anbieter am Wohnort gibt. Das ist in meinen Augen wirklich absurd und muss dringend im Sinne der Pflegebedürftigen geändert werden. Deshalb fordern wir eine pauschale Auszahlung des Entlastungsbetrages. Durch diese Maßnahme könnte nicht nur der Verwaltungsaufwand deutlich minimiert werden. Sondern so könnten wichtige Hilfen auch ohne die Einbindung von Dienstleistern organisiert werden.
Der Alltag in der häuslichen Pflege ist häufig schwer genug. Seit Jahren ist durch Studien klar belegt, wie stark die Belastung und wie akut die Bedrohung durch Armut ist. Die Coronapandemie hat diese Situation für viele Menschen noch weiter zugespitzt. Ich denke es ist höchste Zeit, um endlich wirksame Unterstützung und finanzielle Entlastung für pflegende Angehörige auf den Weg zu bringen. Pflegende Angehörige fordern zu Recht mehr Flexibilität, weniger Bürokratie und bessere Möglichkeiten, selbstbestimmt über die Art der Versorgung zu entscheiden. Und genau dazu leistet eine Vereinfachung beim Entlastungsbetrag einen kleinen, aber wichtigen Beitrag. Deshalb hoffe ich sehr, dass wir hier gemeinsam und vor allem bald zu einer guten Lösung kommen.