Rede · Jette Waldinger-Thiering · 26.08.2020 Klare Vorgaben zur Schule unter Corona viel zu spät auf dem Weg

Unsere Schulen brauchen eine Ministerin, die ihre Lotsenfunktion auch umsetzt!

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 2 - „Lernen in der Pandemie – Perspektiven für unsere Kinder“ (Drs. 19/2337)

Es ist nicht unsere Art, irgendwas zu kritisieren, nur um der Kritik willen. Das sagt man so über uns. Und das zeigt ja auch unser Handeln. 
Wir wissen, dass wir uns seit Anfang diesen Jahres in einer Ausnahmesituation befinden. Seit März stehen wir immer wieder vor Entscheidungen, die neu für uns sind. Und im Bildungsbereich sind sie besonders schnell spürbar für besonders viele Menschen. 

Ich beginne mit dem Blick zurück: 
Als die Landesregierung im März beschloss, dass Schulen und Kitas vorerst geschlossen bleiben sollte, haben wir das mitgetragen und auch immer wieder für Verständnis für die Situation geworben. 
Wir haben aber auch von Anfang an darauf hingewiesen, dass die Voraussetzungen für das Lernen zu Hause nicht unterschiedlicher sein könnten. Nicht, um die Regierung schlecht dastehen zu lassen, sondern um auf Fragen der Bildungsgerechtigkeit hinzuweisen. 
Und als die Regierung im Mai Präsenzunterricht suggerierte und mitteilte, dass alle Schülerinnen und Schüler noch vor den Sommerferien an die Schulen zurückkehren sollten, haben wir uns nicht daran aufgerieben, wie viel Unterricht und welcher Qualität da wirklich vor Ort stattfinden konnte. 
Und das war so, weil wir in Zeiten einer globalen Pandemie nicht vorpreschen wollten. Wenn die Bildungsministerin davon spricht, dass Schule gerade jetzt ein „lernendes System“ sei, dann hat sie recht. Es gab diese Einschränkungen so noch nie bei uns. Und manchmal, das sage ich ganz ehrlich, Frau Ministerin, gibt es Tage, an denen möchte ich nicht in Ihrer Haut stecken. Nicht jede Kritik ist fair, nicht jede Wortwahl ist immer wohldurchdacht. Das haben auch Ihre beiden Vorgängerinnen bitter erfahren müssen. 
Ich erinnere mich noch gut daran und deswegen gestehen wir Ihnen absolut zu, dass wir womöglich noch lange auf Sicht fahren müssen. 
Aber ich denke einen Punkt sollten sie von nun an wirklich ernst nehmen. Und das ist, wenn Vertretungen von Schülerinnen und Schülern, Eltern und Lehrkräften Ihnen sagen, dass sie sich schlecht informiert und nicht mitgenommen fühlen. Und dass sie die Informationen, die sie bekommen, dann eher als Informations-Wirrwarr beschreiben. 
Und damit ist die vorsichtige Zuversicht nun doch der Verunsicherung gewichen. 
An dem aktuellen Streit über das Tragen von Mund-Nasen-Bedeckungen an Schulen wurde deutlich, wie schädlich es ist, wenn die Verantwortung nicht wahrgenommen wird. Es mag für eine Ministerin im ersten Moment bequemer scheinen, Verantwortung abzugeben und Schulleitungen entscheiden zu lassen. Aber nun haben wir Eltern, die gegen die Hygienekonzepte an den Schulen ihrer Kinder erfolgreich klagen konnten. 
So etwas passiert, wenn eine Ministerin „dringende Empfehlungen ausspricht“, statt klare Vorgaben zu schaffen. Die Schulen brauchen keine zögerliche Zurückhaltung mehr. 
Es hilft ihnen und auch den Eltern nicht, wenn sie an einem Sonnabend eine Verordnung bekommen, für deren Umsetzung sie am Montag sorgen müssen. Im Gegenteil. 
Unsere Schulen brauchen nun eine Ministerin, die ihre Lotsenfunktion auch umsetzt!

Wo wir schon bei Klagen sind, gibt es da, wie Sie wissen, zur Zeit noch die andere Seite: Vorerkrankte Lehrkräfte, die vor Gericht ziehen, um vom Präsenzunterricht befreit zu sein. Ich möchte das an dieser Stelle nicht einmal auf die eine oder die andere Art beurteilen. Aber ich frage mich doch, ob es überhaupt zu derartigen Verfahren gekommen wäre, wenn unsere Lehrkräfte sich an ihrem Arbeitsplatz ausreichend geschützt gefühlt hätten. 
Und auch da bemängele ich das Zögern unserer Bildungsministerin. Unsere Lehrkräfte berichten von mulmigen Gefühlen und großer Unsicherheit. 
Klare Vorgaben zur Mund-Nasen-Bedeckung hätten die Lage beruhigt. Die Ankündigung, dass das Land Gesichtsvisiere für Lehrkräfte bereitstellen wird, hätte vor oder während der Sommerferien kommen müssen, nicht wenn das neue Schuljahr schon in Gange ist. 

Nun möchte ich noch einen Blick in die Zukunft wagen: 
Einige Probleme hat es schon vor Corona gegeben, aber sie sind nun eben besonders problematisch. Denn auch wenn sich die Schülerinnen und Schüler in den Schulen an die Einteilung in Lerngruppen halten, wird im Bus auf dem Weg nach Hause dann doch wieder alles durcheinander gewirbelt. Gehen wir einfach mal von einem Solobus in der Regel mit 40 Sitz- und 45 Stehplätzen, oder einem Gelenkbus mit 55 Sitz- und 80  Stehplätzen aus, das wäre doch eine schöne Aufgabe für den Matheunterricht, auszurechnen, wie viele unnachvollziehbare Kontakte dort im Falle eines Krankheitsausbruchs zustande kommen. 
Aber auch an dieser Stelle finde ich, es reicht nicht, zu sagen: „Die hoffnungslos überfüllten Busse liegen im Aufgabenbereich der Kreise!“ und zum nächsten Tagesordnungspunkt überzugehen. Viren interessiert es nicht, welche politische Ebene für den Schülertransport zuständig ist. 
Von daher hoffen wir, dass die Landesregierung hier koordiniert und das Angebot des Omnibusverbandes ernsthaft in Betracht gezogen wird. 

Auch Klassenfahrten werden uns weiter beschäftigen. Denn in diesen Zeiten ist gewissermaßen jede Reise einem Risiko ausgesetzt. Man mag noch so vorsichtig planen und noch so viele Faktoren einbeziehen, es lässt sich nicht mit Sicherheit ausschließen, dass der anvisierte Urlaubsort auch in drei Monaten noch ein Reiseziel mit niedrigen Infektionszahlen ist. Und wenn wir Klassenreisen und Kursfahrten nicht für die nächsten Jahre komplett unterbinden wollen, müssen wir uns darauf einstellen, dass es immer wieder zu Absagen aufgrund von steigenden Infektionszahlen kommen kann. 
Das Ministerium sollte aus unserer Sicht prüfen, inwiefern man Eltern und Lehrkräften auch jetzt noch bei den Regelungen für Stornierungen von Klassenfahrten entgegen kommen kann. Es spricht vieles dafür, in Härtefällen, in denen Eltern die Stornierungskosten nicht zahlen können, weiterhin einzuspringen, damit schlussendlich nicht Lehrkräfte auf hohen Beträgen sitzen bleiben. 

Ein sehr konkretes Problem, vor dem viele Eltern stehen, ist der Umgang mit ihrem Anspruch auf Freistellung von der Arbeit zur Pflege ihres kranken Kindes. Oder in diesen Zeiten potentiell kranken Kindes. Normalerweise besteht der Anspruch aus zehn Arbeitstagen pro Kalenderjahr pro Elternteil für ein zu pflegendes Kind unter zwölf Jahren. Bei mehreren Kindern unter zwölf erhöht sich der Anspruch, aber mehr als 25 Tage pro Elternteil oder eben 50 Tage für Alleinerziehende werden es eben nicht. Nun gibt es Elternvertretungen, die schon vor Corona gesagt haben, die Tage reichen nicht. Was vor allem aber klar ist, ist dass die starren Regelungen, die wir sonst hatten, mit Blick auf Schnupfenplan und dem vorsorglichen zu Hause bleiben so nicht mehr funktionieren werden. 
Denn viele Eltern haben ihr Kontingent schon aufbrauchen müssen. 
Von daher freuen wir uns, dass sich der Koalitionsausschuss in Berlin gestern Nacht darauf geeinigt hat, Elternpaaren das Kinderkrankengeld für jeweils fünf weitere Tage und Alleinerziehenden für weitere zehn Tage zu gewähren.
Wir werden sehen müssen, ob das reicht.

Für den SSW ist klar: der Schutz vor der Pandemie steht weiterhin an erster Stelle. Unser Solidarsystem baut darauf auf, dass wir in Notsituationen füreinander einstehen wollen. Die Landesregierung sollte sich daher frühzeitig mit den Krankenkassen ins Benehmen setzen und im Zweifelsfall auf Bundesebene dafür werben, dass es bei Corona-bedingten Pflegetagen flexiblere Lösungen geben wird. 

Es bleibt noch so viel zu tun. Ehrliche Gespräche über Verschlankungen der Lehrpläne, gleichzeitig der Ausbau der Hilfemöglichkeiten, womöglich weitere Lernferien?
Und wohl auch Kompromisse für unsere Schulabschlussregelungen. 
Manch einer der hier Anwesenden mag sich, ohne dass ich Ihnen zu nahe treten will, wohl noch an die Kurzschuljahre zur Umstellung des Schuljahresbeginns in den 60er Jahren erinnern... oder hat von den Eltern davon erzählt bekommen. Was ich damit sagen will: Wir werden uns vielleicht etwas weiter dehnen müssen, als es uns eigentlich behagt. Und dafür braucht es eine Ministerin, die sich nicht davor scheut, klare Vorgaben zu machen und unseren Schulen den Rücken stärkt. 

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