Rede · Jette Waldinger-Thiering · 22.05.2024 Europa lebt von Menschen wie Ilse Johanna Christiansen

„Minderheitenpolitik ist, wie unsere Forderungen zeigen, eben nicht „nur“ Minderheitenpolitik. Sie ist auch Sozialpolitik, die marginalisierte und in Randregionen lebende Menschen berücksichtigt. Sie ist auch Friedenspolitik, weil sie den Mehrwert von Zusammenarbeit trotz Verschiedenheiten hervorhebt und Vielfältigkeit als Stärke statt als Bedrohung sieht. Die EU muss eine aktive Rolle spielen, um sicherzugehen, dass alle nationalen Minderheiten ihre Sprache sprechen und ihre Kultur leben können. Eine Europäische Union, die „in Vielfalt geeint“ ist, kann nur eine EU sein, die ihre nationalen Minderheiten schützt und fördert!“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 17/22/30/34/37/44/50 - Schleswig-Holstein muss Mitglied der Nordseekommission werden, Drs.20/1950, Ein Europa für alle – Die EU muss nationale Minderheiten endlich unterstützen! Drs. 20/2030(neu), Den Zusammenhalt in Europa stärken, Drs. 20/2110(neu), Europa unbedingt und mit voller Energie, Drs. 20/2134, Schleswig-Holstein für ein starkes Europa, Drs. 20/2140, Die Zukunft Europas mitbestimmen – Aufruf zur Teilnahme an der Europawahl 2024, Drs. 20/2147, Schleswig-Holstein in Europa – Europapolitische Schwerpunkte (Europabericht 2023/2024), Drs. 20/2049

Europa lebt davon, dass Menschen neugierig sind und wissen wollen, wie Andere leben; dass sie miteinander ins Gespräch kommen und zuhören können. Alles das verkörperte die langjährige SSW-Politikerin und Vorsitzende des Friesenrates Ilse Johanna Christiansen, die letzte Woche unerwartet aus dem Leben gerissen wurde.
Als Vorsitzende des Interfriesischen Rates hat sie länderübergreifend die Menschen in Nord-, Ost- und Westfriesland zusammengebracht. Obwohl sie als Multifunktionärin viele Stunden am Schreibtisch und am Telefon zubringen musste, verstand sie ihre Hauptaufgabe darin, Menschen zusammenzubringen.
Ich möchte ein Beispiel anführen: der Friesenrat hatte erst vor wenigen Monaten Kommunalpolitiker aus Ost- und Nordfriesland zusammengebracht, die sich alle für erneuerbare Energieprojekte einsetzen. Der Friesenrat hat Führungen in Betrieben organisiert und hiesige Firmen eingeladen. Erst durch diese Veranstaltung haben sich die Akteure vernetzt und werden wohl zukünftig miteinander kooperieren.

Minderheitenpolitik muss, das hatte Ilse Johanna Christiansen verinnerlicht, mit der Zeit gehen und zeigen, dass gerade Minderheiten einen wichtigen Beitrag zum europäischen Miteinander leisten können.
Vor diesem Hintergrund bin ich besonders traurig, dass diese engagierte Frau nicht ernten kann, was sie gesät hat. Sie wird weder beim Interfriesischen Kongress in zwei Wochen auf Sylt Flagge zeigen können noch beim großen FUEN-Kongress der europäischen Minderheiten, bei dem die friesische Volksgruppe im September auf ihr Betreiben hin Gastgeberin ist.
Die friesische Szene ist immer noch im Schockzustand und niemand kann sagen, wie die große Lücke, die Ilse Johannas Tod gerissen hat, zu füllen ist. Ich hoffe sehr, dass ihr Engagement weitergeführt wird. Wir brauchen nämlich Menschen, die den europäischen Gedanken nicht nur in hohen Reden beschwören, sondern ihn tatkräftig ausleben; mit Hartnäckigkeit, Mut und guten Ideen, genauso wie Ilse Johanna Christiansen es getan hat.


In nur wenigen Wochen, zwischen dem 6. und dem 9. Juni, findet eine der größten politischen Wahlen der Welt statt: Die Europawahl. Mehr als 400 Millionen Bürger und Bürgerinnen werden in 27 Ländern ihre Stimme abgeben. Wir alle wissen, diese Europawahl wird richtungsweisend sein. Es geht nicht nur um die politischen Machtverhältnisse der EU in den nächsten 5 Jahren, es geht um mehr.
Gewinnen die Kräfte, die der europäischen Integration im Wege stehen? Oder wird es eine Mehrheit geben, die für ein gemeinsames, offenes und starkes Europa arbeitet?
Für uns als SSW ist noch eine weitere Frage von großer Bedeutung: wird sich die neugeformte EU-Kommission endlich zu ihrer Verantwortlichkeit für die nationalen Minderheiten in der EU bekennen?
Mehr als 50 Millionen Menschen in der EU gehören einer nationalen Minderheit an. Mit ihren Kulturen und Sprachen leben sie das europäische Moto „In Vielfalt geeint“ tagtäglich. Wir hier im deutsch-dänischen Grenzland wissen: Minderheiten und ihre Vielfältigkeit schaffen einen Mehrwert für alle. Nichtsdestotrotz ist deutlich zu erkennen, dass besonders die EU-Kommission keine Verantwortung für nationale Minderheiten übernehmen möchte. Zum Beispiel lehnte sie die Minority SafePack Initiative ab, in der es um konkrete Verbesserungen der Rechte und Möglichkeiten nationaler Minderheiten geht. Aber diese Verbesserungen sind unabdingbar für eine Europäische Union, die sich Menschenrechte und Minderheitenschutz auf die Fahne geschrieben hat.

 

Ich würde gerne ein konkretes Beispiel bringen: der SSW tritt zwar nicht selbst zur Europawahl an, aber unsere SSW-Politikerin Maylis Roßberg ist die Spitzenkandidatin der European Free Alliance zu dieser Wahl, die Europapartei des SSW. Sie reist im Wahlkampf durch ganz Europa, um nationale Minderheiten zu treffen und ihren Stimmen Gehör zu verschaffen auf der europapolitischen Bühne. Bei manchen Wahlkampfveranstaltungen in EU-Mitgliedsstaaten wurde sie von der nationalen Polizei verfolgt und überwacht. Sie haben sie ab der Ankunft am Flughafen beschattet und die Wahlkampfveranstaltungen und ihre Teilnehmer gefilmt. Öffentlich, um sie einzuschüchtern.
Diese Minderheiten werden tagtäglich diskriminiert und verfolgt. Die Mitgliedsstaaten weigern sich die Minderheiten anzuerkennen und unterdrücken ihre Sprache und Kultur. Sie leben teilweise in den ärmsten Regionen Europas, weil der Nationalstaat in dem sie leben EU-Fonds für Regionen in denen Minderheiten leben zurückhält. Die Kinder lernen die Minderheitensprache nicht mehr und bekommen andere Namen, um später keine schlechtere Anstellungsmöglichkeiten zu haben. Diese Minderheiten kämpfen jeden Tag um das Überleben ihrer Sprache und Kultur!
Wenn wir die EU so hoch in den Himmel loben, dann müssen wir gleichzeitig auch diese Seite der EU aufzeigen. Die Seite, in denen Minderheitenrechte eben nicht geschützt werden.
Die EU muss endlich einschreiten, wenn Nationalstaaten Minderheitenrechte offensichtlich verletzen. Es geht nicht, dass Beitrittskandidaten jede Menge Anforderungen in Bezug auf die Anerkennung und den Schutz von Minderheiten erfüllen müssen, aber es dann keinen Mechanismus gibt, um sicherzustellen, dass diese Standards dann auch in der EU eingehalten werden. Und es geht hier nicht nur um neue EU-Länder, Frankreich zum Beispiel hat das Rahmenübereinkommen zum Schutz nationaler Minderheiten nicht mal unterschrieben!
Es wird Zeit für eine EU, die mehr für ihre nationale Minderheiten tut. Die neue Kommission muss mit der Ernennung eines Minderheitenkommissars oder Kommissarin anfangen. Die EU-Institutionen müssen außerdem die Vielfältigkeit der Bürger widerspiegeln, deshalb wollen wir mehr Flexibilität bei der Aufnahme von Regional- und Minderheitensprachen als Amtssprachen der EU. Viele Minderheiten leben in ländlichen Randregionen und Grenzregionen. Deshalb ist es wichtig, dass die EU-Kommission ihre Regionalpolitik weiterführt und verstetigt. Auch die Finanzierung grenzüberschreitender Zusammenarbeit darf nicht reduziert werden, so wie im Jahr 2019 erst angedacht. Der Ausschuss der Regionen muss als Gegengewicht zu den Nationalstaaten die dort repräsentierten lokalen Interessen stärker in Entscheidungsprozessen vertreten können. Minderheitenpolitik ist, wie unsere Forderungen zeigen, eben nicht „nur“ Minderheitenpolitik.
Sie ist auch Sozialpolitik, die marginalisierte und in Randregionen lebende Menschen berücksichtigt.
Sie ist auch Friedenspolitik, weil sie den Mehrwert von Zusammenarbeit trotz Verschiedenheiten hervorhebt und Vielfältigkeit als Stärke statt als Bedrohung sieht. Die EU muss eine aktive Rolle spielen, um sicherzugehen, dass alle nationalen Minderheiten ihre Sprache sprechen und ihre Kultur leben können. Eine Europäische Union, die „in Vielfalt geeint“ ist, kann nur eine EU sein, die ihre nationalen Minderheiten schützt und fördert!
Sei all dies gesagt möchte ich die Gelegenheit nutzen, um zum Wählengehen aufzurufen. Die EU ist durchaus nicht perfekt, sie ist dennoch die Antwort auf viele unserer Zukunftsfragen. Sie kann weit weg wirken, als etwas, dass nur in Brüssel gemacht wird, aber sie prägt unseren Alltag jeden Tag. Es ist unsere Pflicht die Idee der Europäischen Union zu beschützen und weiterzuentwickeln. Besonders die 16-Jährigen in Deutschland können nun erstmals die Zukunft der EU mitbestimmen. Nutzt diese Stimme! Für eine EU, die Minderheitenrechte schützt und fördert. Für eine EU, die ihre Werte lebt und verteidigt. Für eine EU, die Stolz auf ihre Vielfältigkeit ist. Für eine EU nicht nur für einige Wenige, sondern für eine EU für alle. 

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