Rede · Christian Dirschauer · 24.09.2021 Rede zu Protokoll gegeben Der Prozess der Aufarbeitung muss weitergehen
„Neben der notwendigen weiteren parlamentarischen Aufarbeitung müssen wir selbstverständlich auch unsere Angebote an die Betroffenen aufrechterhalten. Noch einmal: Uns ist und bleibt wichtig, dass wir möglichst alle Opfer erreichen.“
Christian Dirschauer zu TOP 23 - Dokumentation der Aufarbeitung des Themas Leid und Unrecht (Drs. 19/3277)
Der SSW hat immer betont, dass das Leid der Opfer von Gewalt und Medikamentenmissbrauch unermesslich ist. Für mich persönlich kann ich sagen, dass schon allein die Berichte der Augenzeugen und Betroffenen schwer zu ertragen sind. Wir wissen, dass viele Menschen in Einrichtungen der Behindertenhilfe, der Kinder- und Jugendpsychiatrie oder der damaligen Jugendfürsorge Psychoterror und massiver Gewalt ausgesetzt waren und zutiefst gedemütigt wurden. Es kann kaum verwundern, dass sie diese Erfahrungen bis heute belasten. Das ist absolut nachvollziehbar. Was diese schrecklichen Erlebnisse aber wirklich mit einem Menschen machen, wissen nur die Betroffenen selbst.
Nur um es noch einmal klar einzuordnen: Wir reden hier mitunter über schwere Einzelschicksale aber nicht über Einzelfälle. Deutschlandweit waren im Zeitraum von 1949 bis 1975 über 240.000 Kinder und Jugendliche in stationären Einrichtungen der Behindertenhilfe oder der Psychiatrie untergebracht. Geschätzte 100.000 Menschen sind hier Opfer von Gewalt und Missbrauch geworden. Es ist gut und richtig, diesen Menschen pauschale finanzielle Hilfen zur Verbesserung ihrer Lebenssituation zu gewähren. Doch auch wenn man trefflich über die Höhe dieser Leistungen streiten kann, ist für uns eins klar: Auch noch so viel Geld kann das Erlebte nicht wiedergutmachen. Es ist und bleibt unsere Pflicht, die Betroffenen anzuhören und öffentlich anzuerkennen und wissenschaftlich aufzuarbeiten, was ihnen angetan wurde. Auch die Erfahrung, dass einem geglaubt wird, wenn man von diesen oftmals traumatischen Erlebnissen erzählt, ist für viele hilfreich.
Tatsache ist, dass Kirche und Staat eine klare Verantwortung für das verursachte Leid und Unrecht haben. Deshalb ist das, was wir im gemeinsamen Antrag als Ziel formulieren, nur folgerichtig. Wir wollen die Kontinuität bei der Aufarbeitung dieses wichtigen Themas sicherstellen. Nicht nur das, was im Rahmen von Veranstaltungen und Gesprächen mit Betroffenen und Zeitzeugen bekannt wurde, sondern auch die Ergebnisse der wissenschaftlichen Untersuchungen müssen zusammengetragen und gebündelt werden. Wir wollen, dass der Prozess der Aufarbeitung weitergeht. Und dafür wollen wir dem nächsten Landtag eine geeignete Grundlage an die Hand geben.
Neben der notwendigen weiteren parlamentarischen Aufarbeitung müssen wir selbstverständlich auch unsere Angebote an die Betroffenen aufrechterhalten. Noch einmal: Uns ist und bleibt wichtig, dass wir möglichst alle Opfer erreichen. Also auch diejenigen, die Fristen versäumt haben oder denen erst in jüngster Vergangenheit bewusst geworden ist, was ihnen widerfahren ist. Die Beratung dieser Menschen wird weitergehen - und das muss auch so sein. Deshalb möchte ich auch noch einmal an die Opfer appellieren, die bislang keinen Antrag gestellt haben, weil sie denken, dass ihnen vergleichsweise wenig Leid angetan wurde. Beispielsweise weil sie als Kind nur manchmal geschlagen wurden. Auch sie konnten und können aufgrund des Erlebten mitunter bis heute schwer Fuß fassen. Und auch sie haben ein Recht auf Anerkennung und auf Hilfe.
Dem SSW ist in diesem Zusammenhang aber auch die Situation der Zeuginnen und Zeugen dieser Taten wichtig. Es ist bekannt, dass nicht nur Menschen, die in den betroffenen Einrichtungen beschäftigt waren, sondern auch Besucher bestehende Probleme offen angesprochen haben. Manch einer hat versucht, das Leid zumindest zu veröffentlichen und damit zur Beendigung beizutragen. Ich weiß, dass sich viele dieser Menschen heute schwere Vorwürfe machen, weil ihnen das offenkundig nicht gelungen ist. Einzelne konnten gegen diese systemische Gewalt nichts ausrichten. Diese Erkenntnis mag das Gewissen erleichtern, sie ist aber auch eine Mahnung an uns, die wir heute Einrichtungen demokratisch zu verantworten haben. Die Opfer haben einen hohen Preis dafür gezahlt, damit wir heute andere Strukturen, andere Verantwortlichkeiten und andere Kontrollen haben. Das dürfen wir niemals vergessen.
Auch für die Zukunft lässt sich also festhalten, dass wir eine Aufarbeitung auf mehreren Ebenen brauchen. Zum einen gesellschaftlich, weil wir so die systemisch-organisatorischen Ursachen für die jahrzehntelang andauernden Missstände aufdecken und für die Zukunft wirkungsvoll verhindern können. Aber auch individuell, weil längst nicht alle Betroffenen das Erlebte verarbeiten konnten und weiterhin eine angemessene therapeutische Begleitung brauchen. Auch hierfür müssen wir gemeinsam Sorge tragen.