Speech · Jette Waldinger-Thiering · 21.03.2024 Wir brauchen Gleichstellung statt Gleichmacherei

„Hier liegt meines Erachtens ein Denkfehler im System: was es braucht, sind nicht Bedingungen, die Vollzeitarbeit für alle ermöglichen, sondern eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und zwar für alle.“

Jette Waldinger-Thiering zu TOP 23+37 - Planungen zur Novellierung des Gleichstellungsgesetzes sowie Sechster Gleichstellungsbericht in Verbindung mit: Vierter Gremienbericht (Drs. 20/1979 und Drs. 20/1984)    
Der aktuell vorgelegte 6. Gleichstellungsbericht zeigt deutlich, dass es im Bereich der Gleichstellung der Geschlechter im Arbeitsleben noch viel Luft nach oben gibt. Folglich ist es richtig, dass wir nun endlich gemeinsam die Novellierung des Gleichstellungsgesetzes in Angriff nehmen. 
Und doch stimmt mich das nachdenklich: wir leben im 21. Jahrhundert. Die Zeiten der fleißig arbeitenden Männer, denen die Frau zu Hause den Rücken freihält, während sie sich um Kinder und Haushalt kümmert, sollten längst Geschichte sein. Und tatsächlich zeigt der Bericht: viele Frauen arbeiten. In Teilzeit. Damit sie nach der Arbeit noch genug Zeit haben, sich um Haushalt und Kinder zu kümmern, während der Mann fleißig seiner Vollzeitarbeit nachgeht. Das ist nicht nur ein Problem unseres Landes oder der Einstellungspolitik der Landesverwaltung. Nein, das ist ein generelles gesellschaftspolitisches Problem. Und da frage ich mich: wie weit sind wir da wirklich gekommen? 
Natürlich gibt es die Ausnahmefrauen, die Familie und Karriere unter einen Hut bringen: 80 Stunden Arbeitswoche als Spitzenpolitikerin und dann noch zwei Kinder. Aber ist das das Ziel? Dient das als Vorbild für die Breite der Gesellschaft? 
Oder die wiederkehrende Debatte: hätten wir nur mehr verlässliche Kinderbetreuung, dann könnten auch mehr Frauen in Vollzeit arbeiten und die Gleichberechtigung wäre hergestellt. Aber am Ende bezahlt auch jemand den Preis für eine 45 Stunden-Woche in der Kita und das sind die Kinder. Und wer macht eigentlich den Haushalt nach Feierabend? Wer kauft ein, wer kocht, wer bringt die Kinder zum Sport? Hier liegt meines Erachtens ein Denkfehler im System: was es braucht, sind nicht Bedingungen, die Vollzeitarbeit für alle ermöglichen, sondern eine Flexibilisierung des Arbeitsmarktes und zwar für alle. Ist man jung und kommt aus der Ausbildung, kann man natürlich Vollzeit arbeiten, unabhängig von Geschlecht und zugeschriebenen Rollenbildern. Kommen aber die ersten Kinder, muss der Arbeitsmarkt sich flexibel zeigen. Und zwar ohne Karriereknick und Teilzeitfalle. Dann muss es für Eltern - ausdrücklich für beide Eltern – ermöglicht werden, Arbeitszeit zu reduzieren, um auch dem Familienleben gemeinsam gerecht zu werden. 
Sind die Kinder größer, ist dann wieder Zeit für mehr Arbeit. Vielleicht, bis die eigenen Eltern Unterstützung brauchen und die Arbeitszeit dann wieder reduziert wird. Wir müssen hier viel stärker in Lebensphasen denken, Arbeitszeitkonten über das ganze Berufsleben, ein flexibles Zusammenspiel von Arbeit und Leben. Um dahin zu kommen, müssen wir aber nicht da ansetzen, wo Frauen und Männer schon im Arbeitsleben stehen. 

Wir müssen bei der Sozialisierung und Rollenzuschreibung in der Kindheit ansetzen: nur da kann man typische Rollenmuster, die dann in typische Berufsmuster münden, verändern. 
Wie kann es sein, dass noch heute in den Köpfen feststeckt, dass es die Männer sind, die die Familie ernähren müssen, während es die Frauen sind, die die Care-Arbeit verrichten? Warum entscheiden sich Frauen für Berufe, die geringer entlohnt werden und Männer für solche, die mehr Prestige und Geld mit sich bringen? Hier setzt Gleichstellung an. Bei den Puppenmuttis und Baggerführern im Kindergarten. 
Und trotzdem oder gerade deshalb brauchen wir ein Gleichstellungsgesetz, das am Ende nicht als zahnloser Tiger daherkommt. Wir brauchen ein Klagerecht für Gleichstellungsbeauftragte und wir brauchen auch, gerade auf der kommunalen Ebene, mehr Gleichstellungsbeauftragte im Hauptamt. Nur so haben diese die Möglichkeit, einen echten Unterschied zu machen. Und es ist endlich an der Zeit, die Frauenförderpläne in Gleichstellungspläne umzubenennen. Weil es eben das ist, was wir brauchen: Familienväter, die selbstverständlich in Teilzeit arbeiten, Professorinnen mit einer 30 Stunden-Woche, Flexibilität, Aufstiegschancen und Gleichstellung für alle. Und nicht eine Frauenförderung, die darauf abzielt, die Frauen am Arbeitsmarkt den Männern gleich zu machen. 
Ich freue mich auf einen gemeinsamen und konstruktiven Prozess zur Novellierung des Gleichstellungsgesetzes, in den wir als SSW uns natürlich umfassend einbringen werden!

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