Speech · 29.06.2006 Vorfahrt für Kinder / Kostenlose Kinderbetreuung

Nach der Fraktionssitzung am Freitag hörte ich die NDR-Regionalnachrichten im Auto. Dort wurde über eine Umfrage des Kreises Nordfriesland unter 2.700 Eltern berichtet. Die Eltern beklagten die unzureichende Versorgung mit Krippenplätzen im Kreis. Im Bericht der Landesregierung „Vorfahrt für Kinder“ heißt es dagegen, dass Nordfriesland gar keinen Ausbaubedarf annimmt. Nordfriesland geht von einem bedarfsgerechten Angebot für Kinder unter drei Jahren aus. Was stimmt nun? Natürlich fehlen Krippenplätze, aber auch hier hat Hartz-IV für eine besondere Art der Statistik gesorgt, die am realen Bedarf vorbei geht. Das liegt an einer seltsamen Gesetzeskonstruktion im Rahmen der Arbeitsmarktreform. Sie zwingt die Kommunen von einer bestehenden Bedarfsgerechtigkeit auszugehen, denn sonst müsste sie fehlende Plätze aus dem eigenen Haushalt finanzieren. Denn Hartz-IV-Einsparungen gibt es nicht.

Durch die Vereinbarung, die Einsparungen der Kommunen im Rahmen der Hartz-IV-Gesetz in die Krippenversorgung fließen zu lassen, sollten all jene beruhigt werden, die dem neuen Vorhaben kritisch gegenüber standen. Der Gesetzgeber rechnete seinen Kritikern vor, dass es sogar zu erheblichen Einsparungen kommen würde. 2,5 Mrd. Euro rechnet der Bund noch 2004 vor. Davon sollten 1,5 Milliarden in den bedarfsgerechten Ausbau der Krippenplätze fließen. Das wurde im Tagesstättenausbaugesetz festgelegt. Die Praxis von Hartz IV zeigt aber, dass die Schätzungen falsch waren: die Zahlen der Empfänger lagen von Anfang an höher als alle Schätzungen. Einsparungen hat es kaum gegeben. Das wird landauf, landab beklagt.

In dem Bericht heißt es, dass „Angaben zu den realen Einsparungen auf kommunaler Ebene nicht ermittelbar sind.“ Das wäre ein Armutszeugnis für die Kämmerer in unserem Land. Es ist wohl eher zu vermuten, dass einige Kommunen nach Einführung von Hartz IV mehr bezahlen als noch zu Zeiten der Sozialhilfe.

Wenn kein Geld da ist, können keine zusätzlichen Krippenplätze eingerichtet werden. Es ist also für den Insider wenig überraschend, dass der gesamte Landesteil Schleswig keinen Ausbaubedarf angibt, weil hier hohe Arbeitslosenquoten die kommunalen Haushalte sowieso schon belasten. Dabei hat gerade der dänische Schulverein beschlossen, in Flensburg eine Krippe einzurichten, weil die Eltern diesem Träger die Türen eingerannt haben, damit sich möglichst schnell die Situation ändert. Flensburg hat also durchaus einen Bedarf. Und was für die dänische Minderheit gilt, wird für die deutsche Mehrheitsbevölkerung nicht anders sein.

Der Bundesgesetzgeber kann aber beruhigt sein: der Ausbau der Krippenplätze wurde vor zwei Jahren pressewirksam verkauft. Die Kommunen werden nichts unternehmen, die Krippenplätze auszubauen, wurden sie doch verpflichtet, den Ausbau selbst zu zahlen. Das gilt zumindest für die finanzschwachen Kommunen. Ein sehr eleganter Maulkorb. Die Kreise und kreisfreien Städte, die einen zusätzlichen Platzbedarf angeben und den in den nächsten vier Jahren beheben wollen, sind in Schleswig-Holstein in der Minderheit: nur Kiel, Lübeck, Neumünster, Dithmarschen und das Herzogtum Lauenburg werden ausbauen.

Niemand kann davon ausgehen, dass an der Stadtgrenze Kiels oder Neumünsters die Bedarfe auf einmal aufhören. Gerade viele junge Familien sind aufs Land gezogen und fragen nach einer Betreuung der Kleinsten. Ich denke, dass es redlich ist, die Dunkelziffern defensiv hochzurechnen. 955 Plätze werden von vier Kommunen geplant. Wenn also viermal durchschnittlich etwa 200 neue Plätze geplant werden, multipliziere ich einfach 15 mit 200 und komme auf 3.000 Plätze, die in Schleswig-Holstein fehlen. Das sind 3.000 Elternpaare, die jedes Jahr entweder ganz auf Berufstätigkeit verzichten, sich auf Tagesmütter verlassen müssen oder auf ein innerfamiliäre Netzwerk bauen.

Dabei hat doch das neue Elterngeld wirklich etwas Gutes. Wer als frischgebackene Eltern die Botschaft von der Bundesfamilienministerin ernst nimmt, steht nach spätestens 14 Monaten wieder dem Arbeitsmarkt zur Verfügung. Der Druck auf den bedarfsgerechten Ausbau der Krippenplätze wird also enorm zunehmen. Leider weiß ich, dass die Wirklichkeit anders aussehen wird. Das Elterngeld als eine besondere Form der Mittelschichtförderung wird nicht in einem Boom nach Krippenplätzen münden. Die Eltern werden wahrscheinlich ohne Einkommen die restlichen 22 Monate bis zum Kindergarten ohne Geld überbrücken. Anstatt höchstens 14 mal 1.800 Euro im Monat schrumpft das Elterngeld dann auf 700 Euro im Monat; und das ist der Höchstsatz; bei den wenigsten Eltern wird das Elterngeld ohne Krippenplatz existenzsichernd sein. Und dabei rede ich hier bisher nur von Doppel-Arbeitsplatzbesitzern aus der Mittelschicht. Die vielen Kleinverdiener mit möglicherweise nur einem Arbeitsplatz, habe überhaupt nichts von diesem neuen Elterngeld – und deren mögliche Kinder auch nicht. Ein Elterngeld für 14 Monate ohne sichere Anschlussversorgung und ohne Kinderbetreuungszusage für die Kinder ist wie die Auslieferung eines Autos mit nur einem Reifen. Die Familienpolitik der Bundesregierung ist nicht durchdacht.

Überrascht hat mich die große Spannweite der Elternbeiträge bei den Krippen. Sie liegen zwischen 90 und 236,59 Euro im Monat. Bei einer Ganztagesbetreuung haben wir in den Krippen einen Satz zwischen 120 und 381 Euro. Die Höchstsätze sind allenfalls für die Besserverdienenden finanzierbar. Der SSW stellt einen Regelungsbedarf fest. Es geht nicht darum, die Autonomie der Einrichtungsträger einzuschränken, sondern die Kosten für Eltern kalkulierbarer zu machen. Die vergleichsweise geringe Spannweite bei der Kinderbetreuung im Kindergarten zeigt nämlich, dass es auch anders geht. Ich möchte hier nicht einer Angleichung nach oben das Wort reden. Der Besuch der Kindertagesstätten muss für Eltern finanzierbar bleiben und sich der Willkür entziehen.

Über ein kostenfreies letztes Kindergartenjahr denken inzwischen alle nach. Das dafür notwendige Geld wird aber an anderen Stellen, wie dem Elterngeld ausgegeben. Der SSW unterstützt alle Bemühungen für einen Ausbau der Infrastruktur für Kinder. Eine Vorbereitung auf die Schule kann bereits im Kindergarten beginnen. Der SSW hat bereits mehrmals auf das Vorbild der dänischen Kindergärten hingewiesen, die im letzten Kindergartenjahr die Kindern nicht nur mit der Schule vertraut machen, sondern auch die Chance nutzen, eventuell bestehende Defizite noch vor Schulbeginn auszugleichen. In Dänemark heißt das Pflichtprogramm für die Fünfjährigen 0. Klasse. Durch eine gute Vorbereitung starten alle Kinder am Tag der Einschulung von der gleichen Startlinie aus. Das ist eine wichtige Voraussetzung, damit die Zahl der Wiederholer reduziert wird. Der Frust ist einfach geringer: bei Kindern, Lehrern und natürlich den Eltern.

Kostenfreie Kindergartenplätze sind notwendig, aber sie reichen nicht aus; auch Qualität und Zielrichtung müssen stimmen.
Das Wort Kinderbetreuung führt in die Irre: es geht mir, ehrlich gesagt, gegen den Strich. Es geht um eine gezielte Frühförderung mit einer pädagogischen Grundausrichtung und nicht darum, die Kinder gesund und sicher aufbewahrt, also betreut, zu wissen. Deutschland hat die Förderungsmöglichkeiten in den ersten Lebensjahren viel zu lange vernachlässigt. Kinder spielen gerne, zugegeben. Sie wollen aber mehr als nur toben. Kinder saugen alles Neue wie ein Schwamm auf. Bilder, Eindrücke, neue Worte und Bewegungen. Ich muss niemanden mit kleinen Kindern sagen, dass diese kleinen Energiebündel einem manchmal auch anstrengend sein können. Wer ihnen aber Input verweigert, ihnen keine Chance gibt, soziales Verhalten zu lernen, der verspielt eine große Chance. Wenn es ein kostenloses letztes Kindergartenjahr gibt, dann nur, wenn die Einrichtungen vom Land finanziell unterstützt werden.

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